Antonio Rosa de Pauli

STRICHWELTEN

Als ich das erste Mal Linda Berger in ihrem Atelier besuchte und ihre Zeichnung „The flame that put words in her mouth“ sah, versuchte mein Blick sogleich zu assoziieren, die Komposition auf dem riesigen Blatt Papier mit den vielen kleinen farbigen Tuschestrichen zu erfassen, welche mich sofort an die vielschichtige mineralische Struktur einer polierten Steinoberfläche mit all ihren Rissen, farblichen Nuancen, Aufhellungen und Verdunkelungen erinnerte. 

Linda Bergers Zeichnungen schaffen Raum für solche Interpretationen, indem sie wie vergrößerte oder verkleinerte Ansichten verschiedener Aspekte unserer Umwelt erscheinen, welche uns tagtäglich umgibt und unser Leben formt. Diese mannigfaltigen Assoziationen bewirken andererseits, dass sich ihre Werke einer klaren Deutung verschließen. Sie geben keinerlei Anhaltspunkte darüber, was, oder ob überhaupt etwas dargestellt werden soll. Der Betrachter ist sich selbst überlassen, erkennt, assoziiert und folgt somit seiner subjektiven Auffassung, unabhängig von Einflüssen wie der Existenz eines Werktitels. Diese Vieldeutigkeit erzeugt aber gleichzeitig auch eine Unklarheit, die uns zwingt, darüber nachzudenken, was mit den Werken ausgedrückt werden will. Eine Unklarheit, die vor allem aus dem Zusammenspiel zwischen Zufall und Regelwerk entsteht und tiefgründiger ist, als man zuerst annehmen würde.

Bergers Zeichnungen entstehen dabei nicht aus einem gewissen Konzept heraus, sondern aus Impulsen und Befindlichkeiten. Der Einsatz von Tusche als kleingliedrige Striche und der Gebrauch von Papier als Trägermedium sind die einzigen festgelegten Faktoren – das Regelwerk. Der Rest entscheidet sich im oder als Prozess. Auf diese Weise kann die Künstlerin Kontrolle abgeben und Zufall zulassen. Eine aleatorische Vorgehensweise, welche künstlerische Strukturen durch die Vermischung von Improvisation und kombinatorischer Zufallsoperationen erschafft. Bergers Schaffensprozess nutzt den Zufall als improvisatorischen Moment, um das von ihr bestimmte festgelegte Regelwerk auszuweiten.(1) Dieses Regelwerk hat aber auch gleichzeitig die Rolle den aleatorischen Moment zu  bannen und abzuschwächen, um damit arbeiten zu können. Ein System, welches die: „(…) widerstreitenden Prinzipien von Freiheit und Determinismus, Selbst- und Fremdbewegung, Wiederholung und Differenz (…)“, vereint und das vor allem auf Zeitlichkeit aufbaut, da ihren Zeichnungen ein langwieriger Schaffensprozess vorausgeht.(2) Die Zeitlichkeit der künstlerischen Genese kann so als Weg gesehen werden, welcher sich im Moment des Zeichnens selbst bildet. Dieser hat einen Anfang, doch kein definiertes Ende und windet sich solange weiter, bis die Künstlerin ihn als abgeschlossen erkennen kann. Ein Weg als Prozess, der lange andauert und anstrengend ist und im Kontrast zu dem Prinzip der Aleatorik steht, welchem oftmals Mühelosigkeit und Leichtigkeit nachgesagt wird. Berger scheint aber in ihren Arbeiten gerade eben auch mit Mühsal arbeiten zu wollen. Das obsessive Setzen der kleinen Tuschestriche auf einer riesigen Papierfläche fordert Geduld und vollste Aufmerksamkeit der Künstlerin. Ein Zustand, der bewusst von Berger gesucht wird, um in einen meditativen Moment abzutauchen. Das Anstrengende, Lange, Intuitive und Aleatorische ist Bestandteil eines Prozesses, um in eine Art „Flow“ des Zeichnens hineinzufinden. Ein Zustand, der sich entwickelt und den man nicht erzwingen kann.

Bergers eigene künstlerische Entwicklung ist dabei genauso ein Weg der Kunstfindung vorangegangen. Ihre Arbeiten könnte man grob in zwei grundlegende Phasen einteilen. Als Ausgangspunkt dient dabei die Serie „Kraul mir den Pelz Baby“ aus dem Jahr 2014. Jene Arbeiten zeigen lose Strukturen aus einzelnen kleinen Tuschestrichen, die sich über der planen, weißen Papieroberfläche ausbreiten, verdünnen oder zusammenfügen. Diese Verdichtungen und Ausdünnungen lassen Kontraste entstehen, die der losen, beinahe schwebenden Komposition eine gewisse Härte entgegensetzt.

Bald darauf werden diese losen Strukturen immer bildfüllender in die riesigen Papierblätter eingebaut. Eine Weiterentwicklung, die anhand der Arbeit „A brand new age“ aus dem Jahr 2017, gut verdeutlicht werden kann. Während es anfangs noch so scheint, als ob sie sich an gewissen Konventionen der zeitgenössischen Abstraktion anzulehnen scheint, zeichnen sich ihre späteren Zeichnungen in ihrer Monumentalität und Vielschichtigkeit gerade durch eine großartige Individualität, Singularität und Simplizität aus. Betrachtet man die Anfänge ihrer künstlerischen Praxis, so wirken die von ihr geschaffenen Strukturen auf Papier wie freie, losgelöste Gebilde – sich öffnende, sich abschließende und durch den Raum schwebende Strukturen. Sie sind Vorboten und erste Anzeichen für die späteren bildfüllenden Zeichnungen, in welchen sie noch immer vorhanden sind. Auch die leeren, weißen Stellen des Papiers, die in ihren früheren Arbeiten der losen Form Raum gegeben haben, sind in ihren späteren Arbeiten verschwunden, aber dennoch anwesend und spürbar. Mittels Ausdünnung der Striche und dem Einsatz von Farbe wird das Weiß des Papiers hervorgehoben, um es im nächsten Moment durch eine Vielzahl von Strichen zu ersticken. So entstehen Linien und Unterbrechungen, welche die Zeichnung aber nicht teilen, sondern vielmehr das Gefühl einer bewegten Zeichnung erzeugen.

Die Bedeutung der Unterbrechungen und der Linien als Momente der Störung sind in Linda Bergers Werk nicht zu unterschätzen. Die Formen der späteren Arbeiten ähneln noch immer jenen der Anfangszeit, doch scheinen sie nun anders kontextualisiert. Sie sind nicht mehr in eine Form oder Konzept gedrängt und können sich dadurch in der bildfüllenden Zeichnung auflösen. Es gelingt ihr so paradoxerweise die Schwereverhältnisse ihrer Zeichnungen umzukehren. Die ersten frühen Formen scheinen, eingegrenzt von der weißen Papieroberfläche zu schweben – leichte, flüchtige Formen, die aber dennoch tangibel bleiben. Sie wirken dabei aber immer auch von ihrem Trägermaterial abgegrenzt, wodurch eine Dualität zwischen Papier und Form entsteht. In den späteren bildfüllenden Kompositionen verschmelzen Papier und Form durch den Einsatz von Verdichtung und Ausdünnung, farbigen Tuschestrichen, Linien und Umbrüchen als Moment der Störung zu einer Einheit. Die Form erlangt auf diese Weise eine größere Leichtigkeit, da sie nicht mehr als ein in sich abgeschlossener Prozess erfasst werden kann. Diese Unmöglichkeit des Erfassens einer einzelnen Form löst eine Art Unruhe der Oberfläche aus. So scheint es, als ob sich die Zeichnung in sich selbst hinein und in den Raum heraus wölben würde – sie erscheint bewegt. Eine Bewegung, die zuallererst im improvisatorischen Moment zu finden ist, da dieser Ausdruck eines inneren Suchens und Drängens ist, welche die äußere Form durch einen Überschuss an Energie und ein gewisses Unruhepotenzial sprengen kann.(3) So sieht Hans Ulrich Reck den Moment des Improvisatorischen selbst als Form, die sich durch das: „(…) Ausschweifen und Suchen, Aufbrechen und Abweichen (…)“, bildet. In diesem Prozess gehen: “(…) Form und Deformation, Ordnung und Chaos, Struktur und Destrukturierung in immer neue Beziehungen (…)“, ein.(4)

Diese Beschreibung lässt sich gut auf Bergers Zeichnungen übertragen, in welchen gerade diesen Wechselspielen eine bedeutende Rolle zukommt. Sie entstehen aus einem sensiblen und gefühlsvollen Moment, welcher sich durch den meditativen Prozess und das losgelöste Zeichnen bildet und sind somit trotz ihrer Planheit vielschichtig. An dieser Stelle möchte ich auf den am Anfang gebrachten Vergleich der polierten Steinoberfläche zurückkommen. Diese ist zwar eine plane Fläche, zeichnet sich aber durch eine Vielschichtigkeit in ihrer mineralischen Struktur aus, die Abbild von einstiger geologischer Bewegung ist. Diese erstarrte Bewegung ist in den Rissen, Unterbrechungen, Verdichtungen und Ausdichtungen der Struktur noch immer sichtbar. Ähnlich ist es mit Bergers Zeichnungen, in welchen die Tuschestriche wie das erstarrte Abbild des langen Prozesses der Werkschaffung wirken. Die Gefühle der Künstlerin, der Prozess des Meditativen, die Befindlichkeiten, die Brüche, Ausbrüche und Abbrüche sind im Bild fixiert und scheinen starr, geraten aber durch die Struktur und Größe der Zeichnung wieder in Wallung. Die Struktur dient als Konzept, die erstarrte Zeichnung in Bewegung zu setzen, somit sind Bergers Zeichnungen Abbild eines Wechselspiels zwischen Starrheit und Bewegung, Regel und Zufall, die ihrerseits wiederum Triebfeder der Genese des Schaffensprozesses sind.  

  

1 Hans Ulrich Reck, Bernd Ternes (Hg.), Spiel Form Künste, Zu einer Kunstgeschichte des Improvisierens, 2010, S. 329.

Improvisation ist für Hans Ulrich Reck Mittel zur: „(…) Verdichtung und Ausweitung von Grundmustern.“

2 Hans Ulrich Reck, Bernd Ternes (Hg.), Spiel Form Künste, Zu einer Kunstgeschichte des Improvisierens, 2010, S. 329-330.

3/ Hans Ulrich Reck, Bernd Ternes (Hg.), Spiel Form Künste, Zu einer Kunstgeschichte des Improvisierens, 2010, S. 335-336.

Literaturverzeichnis:

Reck: Hans Ulrich Reck, Bernd Ternes (Hg.), Spiel Form Künste, Zu einer Kunstgeschichte des Improvisierens, Hamburg, 2010, S. 335-336.

Berger: Linda Berger, Kraul mir den Pelz Baby – Subjektive Wichtigkeiten und was passieren kann, wenn man zeichnet, 2014.

Karolyi: Claudia Karolyi, „Wie die Zeit vergeht, ohne dass die Zeit vergeht.“ – Arbeiten auf Papier und im Raum von Linda Berger, UM:DRUCK, Nummer 26, Oktober 2014, S. 7.

 

Antonio Rosa de Pauli ist Kunsthistoriker, er lebt in Wien und arbeitet unter anderem für das Mumok-Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien